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Chronik 1995 - 2001:

Von den Modulen bis zur Insolvenz


Neue Wohnungsbau- und Wohnkonzepte
am Beispiel des Projektes „Wohnen an der Kronenburg“

Das Ziel des Projektbereiches Behindertenarbeit, behinderten Menschen ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, zieht sich durch alle Phasen der Vereinsgeschichte. Im Jahre 1999 wurde daher ein Projekt von 1996 wieder aufgegriffen und der Neubau eines für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer geeigneten Hauses im Kronenviertel geplant.

Mit der Baumaßnahme „Wohnen an der Kronenburg“ sollte das Vereinsziel konsequent weiter vorangetrieben und zwei entscheidenden Problemen begegnet werden:

  • Beeinträchtigte Menschen, die eine selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung anstreben, benötigen zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen angemessenen Wohnraum. Barrierefreier Wohnraum ist eine erste Voraussetzung zur Realisierung selbstständiger Wohnformen. Die Wohnungssuche trifft insbesondere körperlich beeinträchtigte Menschen. In Dortmund stehen nur in sehr begrenztem Umfang barrierefreie Wohnungen in zentraler Lage zur Verfügung, die auf die spezifischen Bedürfnisse von Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern zugeschnitten sind. Die Bereitstellung von zentral gelegenen behindertengerechten Wohnungen ist eine Kernaufgabe, die sich der Projektbereich Behindertenarbeit zur Vervollständigung der „Rehabilitationskette“ gestellt hat.
  • Die Einführung der Pflegeversicherung hat nachdrücklich gezeigt, dass die von Pflege abhängigen Menschen, und hier insbesondere behinderte Menschen, zunehmend unter den Sparzwängen von Kostenträgern zu leiden haben. Ambulante Rund-um-die-Uhr-Versorgung ist nur noch in Ausnahmefällen möglich. Aus diesem Grunde sind neue innovative Wohnkonzepte mit zusätzlichen ambulanten Dienstleistungsangeboten im Bereich „Pflege und Assistenz“ gefragt, die eine individuelle ambulante Versorgung im Sinne der Betroffenen ermöglichen. Auch hier widmet sich der Projektbereich Behindertenarbeit seinem zentralen Anliegen „Ambulant vor Stationär“

Das Projekt „Wohnen an der Kronenburg“ stellte ein innovatives Wohnkonzept dar, das sowohl barrierefreien Wohnraum als auch umfangreiche zeitintensive Hilfen im Bereich Pflege und Assistenz verbinden sollte. Durch die räumliche Bündelung sollte es ermöglicht werden, trotz Kürzungen im Sozialbereich auch weiterhin bedarfsdeckende Angebote, einschließlich einer Nachtbereitschaft, sicherzustellen.

Die zentralen Eckpunkte des Projektes waren:

  • Einrichtung eines attraktiven Wohnhauses in zentraler Lage in Dortmund mit insgesamt 6 barrierefreien Wohneinheiten.
  • 3 große Wohnungen in den Vollgeschossen sollten exklusiv für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer gebaut werden, die gerne in Wohngemeinschaften mit anderen Rollstuhlfahrerinnen und- fahrern leben wollten.
  • 3 Wohnungen, jeweils eine im Erdgeschoss, im 1. OG und im 2. OG, sollten für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer (Single oder Paare) entstehen.
  • Um einer „Ghettoisierung“ vorzubeugen war geplant, die Wohnungen im Staffelgeschoss und im Dachgeschoss für nicht behinderte Mieterinnen und Mieter zu errichten.

Im Mai 2000 war der Kaufvertrag für das Grundstück Kronenviertel unterschriftsreif, eine konkrete Bauplanung und ein ausreichendes Finanzierungskonzept lagen vor. Allerdings fehlte noch ein eindeutiges Votum der Stadt Dortmund für den Bedarf an behindertengerechtem Wohnraum im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus. Die nicht gesicherte Zukunft des ISB-Dienstes (BDP – Soziale Dienste gGmbH) veranlasste im Juli 2000 den Projektbereich Behindertenarbeit zu einem Verzicht auf das Bauprojekt.


Fehlgeleitete Sozialpolitik – Hauptsache Satt und Sauber

Mit Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes am 01.04.1995 wurde ein neues Vergütungs- und Abrechnungssystem für die Anbieter ambulanter Leistungen im pflegerischen und hauswirtschaftlichen Bereich eingeführt. Grundlage des neuen Systems waren nun nicht mehr die Abrechnung und der Nachweis von geleisteten Stunden, sondern so genannte „Leistungskomplexe“, auch als „Module“ bezeichnet. Die Inhalte dieser Leistungskomplexe sind im Pflegeversicherungsgesetz durch einen abschließenden Katalog von 21 einzelnen Verrichtungen beschrieben. Die abrechenbaren Leistungskomplexe werden dem jeweiligen ambulanten Dienst mit einem Festpreis vergütet, unabhängig davon, wie viel Zeit für die Ausführung des jeweiligen Leistungskomplexes benötigt wird.

Eine Analyse des neuen Systems zeigte schnell, dass dies mit der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen nicht vereinbar ist. Stellvertretend soll dies beispielhaft verdeutlicht werden: Im Bereich der Körperpflege wird seitens des Gesetzgebers die Verrichtung „Darm- und Blasenentleerung“ vorgegeben. Für diese wird direkt, über die Begutachtungsrichtlinien des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit, sowie indirekt, über die Leistungs- und Vergütungsvereinbarung mit den Pflegekassen, eine Zeitvorgabe definiert. Der zeitliche Umfang laut Begutachtungsrichtlinien und der zur Verfügung stehende Vergütungsbetrag z.B. bei der Darmentleerung sind für Menschen, bei denen aufgrund ihrer Beeinträchtigung (z.B. Querschnitt, Muskelerkrankungen) eine Darmlähmung vorliegt, absolut unzureichend. In der Lebenspraxis zeigen sich eine Vielzahl ähnlicher Beispiele, nicht nur im Bereich der Körperpflege, sondern auch in den Bereichen „Ernährung“ und „Mobilität“. Beispielsweise kann sich bei Menschen mit einer Spastik der Zeitaufwand zum Kauen und Schlucken wesentlich erhöhen. Dieser Mehraufwand ist dann ebenfalls nicht durch den entsprechenden Festbetrag gedeckt. Verstärkt wird die oben beschriebene Grundproblematik der lebensfernen Pflegeversicherung noch durch die Tatsache, dass die vorgegebenen 21 Verrichtungen im Wesentlichen nur reine pflegerische und auf die Wohnung bezogene hauswirtschaftliche Hilfen beinhalten. In der politischen Selbsthilfe behinderter Menschen wurde aus diesen Gründen auch von einer „Teilkaskoversicherung“ bzw. von „Satt-und-sauber-Pflege“ gesprochen.

Mit der Umstellung auf das Leistungskomplexsystem der Pflegeversicherung war somit der einheitliche Stundensatz, der sowohl für pflegerische und hauswirtschaftliche Hilfen, als auch für alle Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft vom Sozialhilfeträger vergütet wurde und den ISB-Dienst langfristig absichern sollte, ab 1996 Vergangenheit. Die Hoffnung des Projektbereiches Behindertenarbeit, auch mit Unterstützung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, mit den Pflegekassen zu einer Ausnahmeregelung für den ISB-Bereich zu kommen, scheiterte an deren Widerstand. Dies wurde durch einen Schiedsstellenentscheid endgültig fundamentiert.

Mit den wechselnden Akteuren in Politik und Verwaltung veränderte sich zeitgleich das bis dahin gute Verhältnis zum Projektbereich Behindertenarbeit. Der örtliche Sozialhilfeträger plante restriktive Einsparungen auch im Behindertenbereich. Das im Sommer 1996 novellierte Bundessozialhilfegesetz übernahm in wesentlichen Bereichen die Regelungen des Pflegeversicherungsgesetzes (leistungsberechtigter Personenkreis und Leistungskomplexsystem) und verschlechterte damit zusätzlich die Gesamtsituation. Erschwerend kam hinzu, dass der Dortmunder Sozialhilfeträger das Bundessozialhilfegesetz sehr eng auslegte und die mögliche Nutzung von so genannten „Öffnungsklauseln“ im Bereich der Hilfe zur Pflege nicht zuließ und entsprechende Widersprüche und Klagen vor dem Verwaltungsgericht in Kauf nahm.

Das Dortmunder Sozialamt verlangte über die Köpfe der Betroffenen hinweg vom ISB-Dienst die Umsetzung des Leistungskomplexsystems und dadurch bedingt Kürzungen bei den überwiegend sozialhilfeabhängigen schwerstbehinderten Kundinnen und Kunden. Somit wollte die Stadt Dortmund die direkte Auseinandersetzung mit den Kundinnen und Kunden des ISB-Dienstes vermeiden und dem Dienst die Kürzung von Leistungsstunden überlassen. Der Projektbereich Behindertenarbeit verdeutlichte im August 1996, dass die Bedarfsermittlung nicht in den Aufgabenbereich eines Dienstleistungserbringers falle. Dies liege originär in der Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers. Zudem wurde eine Kürzungsdiskussion über die Köpfe der Betroffenen als unredlich angesehen.

In der Folge wurden alle Kundinnen und Kunden vom Gesundheitsamt überprüft und erstmalig Bewilligungsbescheide an die Hilfeempfängerinnen und -empfänger erstellt (gültig ab 01.07.1997 ). Widersprüche der Betroffenen wurden abgelehnt. Dreizehn Klagen waren im Jahre 2001 beim Verwaltungsgericht noch anhängig. Im Zeitablauf erübrigten sich einige Klagen durch den Wegzug und leider auch durch den Tod einiger Kundinnen und Kunden.

Aus dem Selbstverständnis des Projektbereiches Behindertenarbeit heraus, als behindertenpolitische Initiative zur Integration behinderter Menschen und zur Schaffung von ambulanten Angeboten, auch für Menschen mit zeitintensivem Versorgungsbedarf, entschied sich der Projektbereich Behindertenarbeit zum politischen Kampf gegen das neue Denken in der Sozialpolitik. Dies geschah auf drei Ebenen: Auf politischer Ebene durch öffentliche Veranstaltungen, auf juristischer Ebene durch die Unterstützung der Kundinnen und Kunden bei der Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche im Widerspruchs- und Klageverfahren und auf wirtschaftlicher Ebene durch die Sicherstellung eines Leistungsangebotes über den stark gekürzten Rahmen hinaus. Es wurde davon ausgegangen, dass die wirtschaftliche Unterstützung bis zu den endgültigen Entscheidungen in den Verwaltungsgerichtsverfahren eine zeitlich befristete Vorausleistung darstellte.


Die Ausgliederung der gGmbH

Es war absehbar, dass die schwierige wirtschaftliche Situation des ISB-Dienstes und auch des Wohntrainings durch die ausbleibenden Zahlungen der Stadt Dortmund den Projektbereich und somit das Bestehen des Edward-Clement-Hauses gefährdete. Daher bereitete der Projektbereich Behindertenarbeit vorsorglich die Ausgliederung der beiden Dienstleistungsangebote mit der Gründung der „Bund Deutscher Pfadfinder – Soziale Dienste gGmbH“ vor.

Zum 01.10.1997 wurden die Dienstleistungsbereiche „ISB-Dienst“ und „Wohntrainingsgruppe“ mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Bund Deutscher Pfadfinder – Soziale Dienste gGmbH übergeleitet. Gleichzeitig wurde die gGmbH für einen geordneten Beginn mit einem Betriebsmittelkredit des Projektbereiches Behindertenarbeit ausgestattet.

Bis zum Jahr 1997 wurde der ISB-Dienst von der Stadt Dortmund immer dann angefragt, wenn Kundinnen und Kunden mit sehr umfangreichen Versorgungs- und schwierigen Lebenssituationen, z.T. bedingt durch Mehrfachbeeinträchtigungen bzw. -erkrankungen einen ambulanten Dienst benötigten und eventuell andere Dienste die Versorgung abgelehnt hatten. In diesem Zusammenhang erscheint die Änderung im Verhalten der Stadt Dortmund gegenüber dem Projektbereich Behindertenarbeit und später auch gegenüber der Bund Deutscher Pfadfinder – Soziale Dienste gGmbH besonders unverständlich. Zunächst praktizierte Übergangsvereinbarungen nach Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes waren absehbar nur befristete Absprachen und ließen für die Zukunft nichts Gutes erahnen.

Die zwischenzeitlichen Hoffnungen auf eine Erweiterung des Leistungskomplexsystems im Rahmen der Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen mit den Pflegekassen um ein so genanntes „ISB-Modul“ mussten im November 2000 – zumindest vorläufig – aufgegeben werden. Das ISB-Modul für Menschen mit zeitintensivem Versorgungsbedarf würde die Systematik des Leistungskomplexsystems dahingehend öffnen, dass wieder – wie vor Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes – eine Leistungsstunde abgerechnet werden könnte. Andere Kommunen wie der Kreis Minden-Lübbeke versuchten zumindest in ihrem Zuständigkeitsbereich der Hilfe zur Pflege im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes die Lücken des Pflegeversicherungsgesetzes abzufangen. Sie eröffneten Leistungsanbietern ambulanter Hilfen die Möglichkeit, vorab vereinbarte Aktivitäten, wie z.B. Hilfen bei der Teilnahme an Veranstaltungen oder auch beim Spazierengehen, als Leistungsstunde abzurechnen. Als leistungsrechtliche Grundlage hierfür wurden die so genannten „anderen Verrichtungen“ der Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) herangezogen. Dieser Weg, der auch für Dortmund durch den BSHG-Kommentator Utz Krahmer vorgeschlagen wurde, entsprach jedoch nicht dem politischen Willen der Dortmunder Sozialverwaltung und Sozialpolitik.

Aufgrund der teilweise ausbleibenden Zahlungen durch die Stadt Dortmund und die fehlende Kommunikationsbereitschaft in Sozialverwaltung und -politik – häufig auch mit Verweis auf noch offene Verwaltungsgerichtsentscheidungen – sah die Bund Deutscher Pfadfinder - Soziale Dienste gGmbH keinen anderen Ausweg als am 13.03.2001 das Insolvenzverfahren einzuleiten.